Liebe Gemeinde!
„Hütet euch vor den Schriftgelehrten!“ Scharf und hart klingt die Kritik Jesu. Die Begründungen entlocken uns ein zustimmendes Kopfnicken. Gleichzeitig sind sie Anfragen an unsere eigene Praxis. Jesus geht von Galiläa nach Jerusalem, ins Zentrum der politischen und religiösen Macht. Zielstrebig steuert er den Tempel an, den vermeintlichen Ort der Befreiung gegen die Römerherrschaft. Er schaut sich im Tempel genau um.
Der Abschluss der öffentlichen Lehre Jesu in Jerusalem ist eine Abrechnung mit einem unterdrückenden System, das, so beschreibt Markus, Häuser und Leben der Witwen frisst. Jesus weiß als gläubiger und praktizierender Jude, dass Witwen besonderen Schutz in der Gemeinschaft genossen und gerade der Tempel diesen zu gewährleisten hatte.
Jesu Beobachtungen ergaben aber ein ganz anderes Bild. Witwen, die Häuser haben, werden von den Vertretern des religiösen Systems enteignet, Witwen, die bettelarm sind, bringt man um ihr Leben, anstatt ihren Lebensunterhalt zu sichern. Die Schriftgelehrten und der Tempel fressen die Lebensgrundlagen der Armen auf. Ganz real durch Enteignung und ideologisch durch eine Spendenpraxis, die den Armen das Letzte aus den Taschen zieht. Ihnen bleibt nichts mehr zum Leben übrig, während die Reichen nur vom Überfluss geben und alles andere für sich behalten. Unsere heutigen Zustände lassen grüßen. Die, die haben, werden immer reicher und tragen immer weniger zum Gesamt bei, während andere trotz Arbeit kaum mehr ihr Auslangen finden. Das alles wird unterstützt von Politik und Gesetzen, die die Besitzenden schützen.
Wenn jede und jeder auf seinen Nächsten, auf seine Nächste schaut, dann geht es allen gut. Soweit so Nächstenliebe. Im Widerspruch dazu das Handeln der Schriftgelehrten und des Tempels. Die Selbstgefälligkeit und Selbstverliebtheit der Schriftgelehrten verdeckt den Blick auf die Schutzbefohlenen der Tora, der Weisungen Jahwes. Die eigene Eitelkeit steht im Mittelpunkt, man will gegrüßt werden, die besten Plätze einnehmen, wichtig sein. Aber das scheint bei weitem noch nicht das Schlimmste. Sie fressen die Häuser der Witwen leer oder wie es in anderen Übersetzungen heißt: sie bringen die Witwen um ihre Häuser. Als Draufgabe verrichten sie lange Gebete – Gebete, die sich nicht um die Tora und den Willen Jahwes drehen sondern um die eigenen Machenschaften. Jesus hat sich hingesetzt, genau beobachtet, und daraus seine Schlüsse gezogen.
Er macht klar, woran die Lehre der Schriftgelehrten zu messen ist. Sie sollen unterstützen zu einem befreiten Leben der Menschen. Gleichzeitig übt Jesus Kritik am Opferkasten, einem System, das sich von den Menschen, für das es da sein sollte, radikal entfernt hat. Hier gibt Jesus nicht nur seinen Jüngern klare Anweisungen, auch für die jungen Christengemeinden wird klar, worauf der Blick zu lenken ist. Die Lebensmöglichkeiten, die Lebensverhältnisse der Armen sind Gradmesser der Praxis der Gemeinde. Die Qualität der Menschlichkeit bemisst sich danach, wie mit den Schwächsten umgegangen wird und danach, was man auch den Reichen abverlangt als Beitrag.
Die Reichen werfen viel in den Opferkasten, das bereitet ihnen allerdings keine Schwierigkeiten. Sie geben vom Überfluss. Eine arme Witwe wirft das Letzte, was sie hatte. Sie wirft ihr ganzes Leben hinein. Was bleibt ihr dann zum Leben könnte man fragen und sich gleichzeitig selbst die Antwort geben: Nichts. Sie ist in einem solchen Spendensystem dem Tod geweiht.
Jahwe will Leben. Ein System, das die Menschen um ihr Leben bringt, steht einer göttlichen Grundordnung der Egalität, der Gleichheit und der Autonomie, der Freiheit des Lebens radikal gegenüber. Das macht Jesus eindrucksvoll und prägnant klar. Der Tempel bietet nicht Schutz, wofür er da zu sein hätte, sondern bringt Tod. Jesu prangert die verkehrte Spendenpraxis an und macht mit der Spende der Witwe beispielhaft deutlich, wie es um die Lebensumstände der kleinen Leute bestellt war. Als Lepton wurde die kleinste Währungseinheit eines Währungssystems bezeichnet. Die Witwe wirft 2 Lepton und damit ihren ganzen Lebensunterhalt in den Opferkasten. 2 Lepton waren ein Quadrant. Aus der täglichen Armenschüssel wurden damals 8 Quadranten pro Kopf ausgegeben. Auf die Witwe bezogen kann man ein bekanntes Sprichwort bemühen. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Ihr Leben zu sichern wäre Aufgabe der Schriftgelehrten und des Tempels.
Die Ideologie der freiwilligen Gabe ist problemlos für den, der hat, beziehungsweise zu viel hat. Angewendet auf diejenigen, die bettelarm sind, wirkt sie tödlich. Es geht also Markus nicht um ein Spendenverhalten, das den Leuten den letzten Cent aus der Tasche zieht, denn dann bleibt nichts mehr zum Leben. Allzu oft wurde die Witwe in unserer christlichen Tradition hingestellt als Paradebeispiel des Gebens, als die, die das letzte gab, was sie hatte. Nicht weitergedacht wurde dabei jedoch, wer jetzt für ihren Lebensunterhalt aufkommen sollte, wenn sie nichts mehr hat. Das Lob der armen Witwe scheint also keine zielführende Auslegung dieser Bibelstelle zu sein, will man eine Gesellschaft, in der alle leben können. In den Blick gerückt wird auf jeden Fall die Verantwortung der Gemeinde und im weiteren Sinne der Gesellschaft für die Menschen, die in ihrem Umfeld leben und die wenig oder nichts zum Leben haben. Und auch die Frage des Umgangs mit Reichtums wird indirekt geklärt. Sätze aus der Apostelgeschichte rufen sich hier in Erinnerung. „Alle Glaubenden aber hielten zusammen und hatten alles gemeinsam“. Der Beitrag aller ist gefordert. Die radikale Verantwortung füreinander in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ist eine Anfrage an die Praxis der Gemeinde. Hier dürfte es keine Armen und Bedürftigen geben, weil geteilt wird bis alle genug haben.
Markus ruft mit diesen Sätzen die Tradition in Erinnerung. Witwen, Waisen und Fremde standen als Schwache der Gesellschaft unter besonderem Schutz. Wenn also von der Witwe die Rede ist werden auch die anderen beiden Gruppen ins Gedächtnis gerufen. „Eine Witwe oder eine Waise sollt ihr nicht erniedrigen“, heißt es in Exodus, Kapitel 22. Und im Buch Deuteronomium wird beschrieben: „Denn Jahwe, euer Gott ist der Gott … der der Waise und Witwe Recht verschafft und den Fremden liebt, so dass er ihm Brot und Kleidung gibt. Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.“
Erinnert euch eurer Geschichte und handelt wie es in der Tora geschrieben steht. Denn wer Tora tut wird leben. Darauf will Markus verweisen.
„Verflucht ist, wer das Recht des Fremden, der Waise oder der Witwe beugt. Und das ganze Volk soll sprechen: Amen.“ (Dtn 27,19) Die Verantwortung wird dem ganzen Volk überantwortet, die Weisungen der Tora treffen also neben den Schriftgelehrten auch uns, sind Anfrage und Anweisung an und für unser konkretes Tun. Wer sind heute die Witwen, die Schutzbedürftigen?
Wie ist unser Blick auf die Schwächeren, auf die Bedürftigen unserer Gesellschaft, die Asylanten, die Flüchtlinge, die MindestpensionistInnen, die Arbeitslosen, die Obdachlosen? Was tun wir konkret? Setzen wir uns ein für menschenwürdige Verhältnisse für Flüchtlinge? Nehmen wir Flüchtlinge auf und teilen unseren Lebensraum mit ihnen? Erheben wir die Stimme, wenn Löhne verhandelt werden, die das Leben nicht mehr sichern? Treten wir auf, wenn menschenverachtend über Ausländerinnen, Arbeitslose, Jugendliche geredet wird? Ist uns bewusst, auf wessen Kosten wir leben? Und hat das Auswirkung auf unsere Lebensgestaltung? Sind unsere Türen offen zum Eintreten und Begegnen?
Eine solidarische Gesellschaft braucht die Grundhaltung des Teilens. Vom Geben des Überflusses zum wirklichen Teilen zu kommen ist immer wieder Aufgabe, die uns als Gemeinde wesentlich herausfordert. Wir können wie Jesus unser Tun und Handeln beobachten und schauen, wo wir stehen, im Sichern des Lebensunterhaltes für alle. Als Gemeinde stehen wir in einer Verantwortungstradition für die Schwächeren. An ihren Lebensmöglichkeiten misst sich die Tragfähigkeit unserer christlichen Praxis. Hier wird die entscheidende Frage der Bibel Wirklichkeit: Wem werde ich zum Nächsten? Wen nehmen wir als Gemeinde wahr?